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Texte über den Film

Von Tellern und Raketen - von Bert Rebhandl für die FAZ am 25.11.2016
Am meisten vermissen sie das Sofa, den Bäcker, das Souvenir aus Madrid: Der Film „Haunted“ von Liwaa Yazji erzählt die Geschichte des syrischen Krieges so, wie man sie noch nicht gehört hat.

Ein Teller aus Madrid aus dem Jahr 1978, ein Touristensouvenir ohne anderen als sentimentalen Wert – das ist der Gegenstand, den eine geflüchtete Frau aus Damaskus besonders vermisst. Der ganze bürgerliche Hausrat, den sie zurücklassen musste, steht für ein Leben in gesicherten Verhältnissen. Der Teller steht für Reisefreiheit, für eine offene Welt, also für all das, was so viele Menschen im syrischen Bürgerkrieg verloren haben.

Die Filmemacherin Liwaa Yazji hat schon 2011 begonnen, Zeugnisse einer großen Vertreibung und Flucht zu sammeln. In „Haunted“ („Maskoon“) hat sie das nun alles zusammengefasst, in dem Dokument eines Exils, von dem die europäischen Länder so lange wie möglich nicht allzu viel wissen wollten. Denn zuerst einmal gingen die Menschen nicht nach Deutschland oder Schweden. Beirut, Kuweit, Amman, das sind die Koordinaten, in denen sich auch Liwaa Yazji bewegt hat. Der Aufbruch aus Wohnungen, in denen jederzeit eine Panzergranate einschlagen konnte, galt zuerst einmal nahen Zielen, und die Rede von Rückkehr und Wiederaufbau ist allgegenwärtig.

„Wird die Straße offen sein?“
Das mag aus heutiger Sicht überraschend wirken, da wir uns daran gewöhnt haben, den Krieg in Syrien als beinahe schon apokalyptisch, jedenfalls aber als mehr oder weniger aussichtslos zu betrachten. Gerade das macht „Haunted“ aber so besonders interessant: Er führt uns an Orte und zu Momenten, die hinter dem großen Menetekel Aleppo liegen. In eine Situation, in der es noch einen Sinn hatte, so lange wie möglich auszuharren, denn ein Waffenstillstand war denkbar, jedenfalls in Damaskus. Auf einzelne Straßen kam es dabei an, sie bildeten Demarkationslinien. Im Viertel Barzeh schlugen an einem Tag 15 Raketen ein, in Mazzeh wähnte man sich noch sicher. Ein nicht geringer Teil von „Haunted“ besteht aus Gesprächen, die über Videotelefon geführt wurden: verwischte Bilder von Paaren, die noch nicht das Weite gesucht haben, und für die sich schließlich alles auf eine entscheidende, bange Frage reduziert: „Wird die Straße offen sein?“

An einer genauen, differenzierten Darstellung der Konstellationen in Syrien ist Liwaa Yazji dabei nicht gelegen. Zwar weiß man im Wesentlichen, woher die Granaten kommen, und die fundamentalistische Opposition gegen Assads Herrschaft spielt in diesem Film keine Rolle. Aber es geht in den Gesprächen nicht um eine Positionierung in einer zunehmend hoffnungslos zerklüfteten politischen Landschaft, sondern es geht um elementare Erfahrungen: Wie geht man damit um, dass man keinen Ort mehr hat? Es sind die banalen Dinge, die immer wieder genannt werden, die am meisten vermisst werden: das Sofa, auf das sich einer immer zum ziellosen Nachdenken zurückgezogen hat; eine Toilette, auf der man in Ruhe gelassen wird; der Gang zu einem Bäcker, der täglich Croissants im Angebot hatte.

Ganz normale Aspekte von Behausung und Verortung sind unwiederbringlich verlorengegangen und werden durch Recherchen auf Youtube ersetzt. Hier finden sich die Videos, in denen die Flüchtlinge ihre Häuser suchen, wenn wieder einmal jemand mit einer Handykamera eine Ruinenlandschaft durchstreift hat. Darin erkennt ein Mann, der nun in Beirut ist, sein ehemaliges Viertel wieder. Beirut erweist sich dabei als eine Zuflucht, die wenig Mut macht: „Hier riecht man immer noch den Bürgerkrieg“, heißt es einmal. Der Libanon hat genügend politische Probleme, die Zuwanderer aus Syrien müssen zum Teil in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht werden. So überlagern sich in „Haunted“ die Erfahrungen von Generationen: Ist das jetzt schlimmer als die Nakba, die Vertreibung vieler Palästinenser im Jahr 1948? Ja, meint einer, denn damals entstanden wenigstens Strukturen, mit denen man sich auseinandersetzen konnte. Nun aber herrscht Chaos und Improvisation, man lebt auf und in Ruinen. Der Film „Haunted“ zeigt auf eindringliche Weise, dass die Flüchtlingskrise nicht vor den Toren Europas begann, sondern in den zerstörten Wohnzimmern von Damaskus und Aleppo.
Quelle: FAZ

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Haunted - von Wolfgang Hamdorf für FILMDIENST in 11/2016
Es ist dunkel. Die Kamera streift über die Fassaden eines mehrstöckigen Gebäudes. Hinter den beleuchteten Fenstern leben Menschen, aber nicht mehr lange. Wenig später sieht man andere Häuser. Der Boden ist mit zersplitterten Kacheln bedeckt, die Möbel sind umgestoßen und zerbrochen.

Was heißt es wirklich, vor Krieg zu flüchten? Wie stark schmerzt der Verlust der vertrauten Umgebung? Der Verlust der eigenen Wohnung, weil man dort unter den Bomben und dem Kugelhagel der Angreifer jederzeit sein Leben verlieren kann? Der Verlust der Heimat: Das klingt fast abgedroschen. Eine altbekannte Phrase, die jedoch selten mit Inhalt gefüllt wird. „Haunted“ dagegen zeigt die Zerstörung des privaten Umfelds, den Verlust der vertrauten Umgebung. Regisseurin Liwaa Yazji trifft Freunde und Unbekannte kurz vor dem Abschied oder in neuen Unterkünften und kommt ihren Protagonisten dabei sehr nahe.

Aus der Ecke des Kleiderschranks holt ein junger Mann Vasen. Bis heute, sagt er, fragt seine Mutter nach ihren Kristallvasen; sie hatte ja nur den kleinen Koffer mitgenommen, den sie für den Schutzbunker vorbereitet hatte. Aber was haben diese persönlichen Gebrauchsgegenstände heute noch für einen Wert? „Mit diesem Kaffeetopf hat meine Familie 40 Jahre lang Kaffee gekocht“, erzählt ein anderer Mann. Ein älteres Ehepaar verharrt in seinem Wohnblock in Damaskus, die Nachbarn sind fast alle schon weg, die Vorräte werden knapp, die Einschläge der Panzer und Raketen rücken näher. Nur über Skype bleibt eine Verbindung erhalten: „Hier ist nichts passiert, es ist Ausgangssperre“, hört man die Frau. Höchste Anspannung und das tiefe Bedürfnis, vertraute Alltäglichkeit zu leben, beherrschen das Leben in dem halb zerstörten und noch bewohnten Kriegsgebiet.

„Haunted“ lässt den Zuschauer über die Bild- und Tonebene an einer albtraumartigen Entwurzelung teilnehmen: Disperses Bildmaterial von zwei Kameramännern und der Regisseurin lassen ein Panorama entstehen, das so zerrissen ist wie die Protagonisten und ihre Schicksale. Flüchtlinge und Vertriebene des Syrienkrieges: Abed und Fufeida, Firas, Hussein und Wael in Damaskus, Mohammed, Malak in Beirut, Mustafa in Kefernubel. „Der Verlust der Heimat ist schrecklich“, sagt eine Frau, „als würde man ein Körperteil verlieren, so wie eine Eidechse, die einen Teil ihres Körpers abstößt, um zu überleben.“ „Ich fühle mich, als ob mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden sei“, bemerkt eine andere Frau. Die Verunsicherung der Protagonisten ist groß, die Heimsuchung durch den Krieg erschüttert ihre Psyche, die drohende Heimatlosigkeit lässt viele apathisch werden.

Auf Flucht und Vertreibung aus Syrien folgt das ungewisse Dasein in einem physischen wie mentalen Niemandsland zwischen gestern und morgen. Bei einigen ist es die tragische Fortführung einer langen Flüchtlingstragödie. Einer geht zurück in seine Heimat, in die von Israel besetzten Golanhöhen. Sie nehmen ihm den syrischen Personalausweis ab und geben ihm eine israelische Kennkarte, aber in den besetzten Dörfern kann er sich nicht mehr wohlfühlen.

Für fast alle ist die Heimat unwiederbringlich verloren, denn, so sagt ein anderer Flüchtling, ein Haus, das einmal ein Massaker erlebt habe, sei nicht mehr dasselbe Haus. „Haunted“ ist kein herkömmlicher Film. Er zieht den Zuschauer vielmehr in die erschütternde Zwischenwelt der Flüchtlinge und Vertriebenen.
Quelle: FILMDIENST

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