Zum Inhalt springen

Rashid Mashrawi

Interview mit dem Initiator Rashid Mashrawi

Rashid Mashrawi ist ein palästinensischer Filmemacher, Gründer des Mashrawi Fund for Films and Filmmakers in Gaza und Initiator der Kurzfilm-Kompilation FROM GROUND ZERO.

Rashid Mashrawi, Sie stammen aus dem Flüchtlingslager Shati in Gaza. 1994 kam Ihr erster Spielfilm CURFEW in die Kinos. Er war eine Koproduktion mit dem WDR und der erste Spielfilm, der von jemandem aus Gaza in Gaza gedreht wurde. Können Sie etwas über die Idee, die Beweggründe für den Film und die damaligen Bedingungen für das Filmemachen in Gaza erzählen?
CURFEW war mein erster Spielfilm und wir waren in der Kritikerwoche in Cannes und wurden mit dem UNESCO-Preis ausgezeichnet. Ich glaube, er als erster palästinensischer Film auf dem Festival betrachtet. Wir Palästinenser haben vor CURFEW Filme gedreht und waren auch schon vorher in Cannes. Auch ich selbst habe vor CURFEW Filme gemacht, aber vielleicht, weil die Palästinensische Autonomiebehörde 1994 bereits im Gazastreifen war, konnte die palästinensische Flagge bei der offiziellen Auswahl der Filmfestspiele von Cannes aufgestellt  werden, was vorher unmöglich war. Deshalb betrachteten sie ihn als den ersten Spielfilm aus Palästina.
1994 war die Zeit des Oslo-Abkommens, und der Film wurde während der Intifada 1993 gedreht. Ich habe das Drehbuch während einer Ausgangssperre geschrieben, als ich zu Hause in Gaza war. Für mich ist es so etwas wie der Versuch, einen Weg zu finden, wahre Geschichten aus dem wahren Leben auszudrücken, aus meiner eigenen Erfahrung.

Wie entwickelte sich bzw. ging die Filmproduktion weiter, nachdem die Palästinensische Autonomiebehörde im Gazastreifen Einzug hielt?
Als ich CURFEW drehte, war die Intifada noch im Gange. Ich drehte also eigentlich heimlich. Ich war illegal. Ich musste einige Drehorte in einer Art Studio in Nazareth aufbauen und musste heimlich Straßen und Gassen in Gaza filmen. Alles war geheim und illegal. Danach, als 1995 die Palästinensische Autonomiebehörde gegründet wurde, drehte ich meinen zweiten Spielfilm, HAIFA. Damals hatten die Palästinenser nur Gaza und Jericho. Deshalb drehte ich HAIFA in Jericho. Diese Filme dienten als eine Art Trainingsworkshop für Palästinenser*innen, die Filme machen wollten.
Unmittelbar nach HAIFA beschloss ich, nach Palästina zurückzukehren und gründete in Ramallah ein Kinozentrum mit dem Namen Cinema Production Center. Es war tatsächlich die erste Produktionsfirma bzw. das erste Zentrum in Ramallah.
Ich wusste, dass wir, um eine Kinolandschaft aufzubauen, Filme machen mussten, und auch Filme gucken mussten. Da es nach der Intifada keine Kinos mehr in Palästina gab, habe ich ein mobiles Kino für ganz Palästina gegründet. Das mobile Kino zeigte Filme in Schulen, Universitäten, Flüchtlingslagern und Kulturzentren, und ich habe ein Filmfestival für Kinder organisiert, weil ich glaube, dass es besser ist, schon in der Kindheit und Jugend mit dem Filmeschauen anzufangen. Es gab also das mobile Kino, das Filmfestival und Workshops. Und jeder meiner Filme war auch ein Workshop. Viele der palästinensischen Filmschaffenden, Regisseur*innen oder Produzent*innen, die heute international erfolgreich sind, durchliefen das mobile Kino, das Filmproduktionszentrum oder solche Workshops in Palästina. Einige von ihnen sind heute große Namen: Produzentinnen wie May Odeh oder der Direktor der Palestinian Cinema Days, Hanna Atallah, wurden an meinen Filmen ausgebildet. Oder der Regisseur von 200 METERS, Ameen Nayfeh, er war bei PALESTINE STEREO. May war bei LAILA’S BIRTHDAY. Hany Abu-Assad und ich haben einen Workshop für ihren ersten Kurzfilm gemacht. Der Kameramann von Hanys Film OMAR wurde ebenfalls an den Kurzfilmen geschult.
Ich bin sehr froh und stolz. Es war eine große Aufgabe. Es hat viel Energie gekostet, die palästinensischen Filmemacher*innen dazu zu bringen, sich nicht auf die politische Situation zu konzentrieren, auf die Besatzung und die Opferrolle. Nein, wir sollten an Kino denken. Wir sollten Filme machen. Wir sind Filmemacher*innen. Da lag der Fokus. Wir haben der Welt die ganze Zeit gesagt: Unterstützt uns nicht aus Solidarität. Kritisiert uns. Beurteilt uns. Wir wollen Filmemacher*innen sein. In dieser Hinsicht wurde also unmittelbar nach der Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde viel Arbeit geleistet.

Und Gaza, waren sie an den Aktivitäten beteiligt? Oder befand sich Gaza in einer anderen Situation?
Ich habe das mobile Kino, das Kinderfilmfestival und die Workshops in Gaza ins Leben gerufen. 1995/1996. Das habe ich fast 10 Jahre lang gemacht. Ich habe das alles in Gaza begonnen und auch im Westjordanland und in Jerusalem gearbeitet, in den palästinensischen Gebieten. Außerdem haben wir ein Kulturzentrum mit einer kleinen Kinemathek gegründet, wo wir Filme uraufführen und diskutieren konnten, wo sich Filmemacher*innen treffen konnten. Es war wie ein Café mit Kino und Galerie. Das war in Ramallah, um eine Kinolandschaft zu entwickeln. Als ich 1995 nach Palästina zurückkehrte, musste ich mir auch selbst einen Boden für meine eigene Arbeit schaffen. Ich musste Filmemacher*innen treffen und mich mit ihnen austauschen können. Also musste ich zuerst die Gerundlage dafür schaffen. Um dann Filme zu machen. Dieses Kulturzentrum wurde 2001 geschlossen, als ich in Holland war, um meinen Film TICKET TO JERUSALEM zu schneiden, und einige Jahre lang nicht nach Ramallah zurückkehren konnte [aufgrund der zweiten Intifada, I.N.]. Deshalb wurde es geschlossen. Ich habe andere dabei unterstützt, ein Kinderfilmfestival, ein mobiles Kino und Trainings zu organisieren - aus der Ferne. Ich habe bis 2005/2006 gewartet, bis ich nach Ramallah zurückkehren konnte. Oder nach Palästina. Die Israelis hatten mir die Einreise verweigert.

Kommen wir zurück zu Gaza und sprechen wir über die Kompilation FROM GROUND ZERO. Wenn ich das richtig verstanden habe, haben Sie das Projekt nach Kriegsbeginn angefangen. Wie sah die Situation des Kinos in Gaza vor Oktober 2023 aus? Aus dem Streifen sind einige Dokumentarfilme gekommen, aber insgesamt ist über das Filmemachen in Gaza wenig bekannt. Geben Sie uns etwas Kontext, damit wir besser verstehen, auf welcher Grundlage Sie mit den von Ihnen ausgewählten Filmemachern arbeiten konnten.
In Gaza gab es einige Leute, Männer und Frauen, die Filme drehten, oder versuchten, Filme zu machen. Wegen der fast 20-jährigen Belagerung reisten diese Filmschaffenden nicht. Sie nahmen nicht an Filmfestivals teil. Sie standen nicht im direkten Austausch mit anderen, mit internationalen, Filmemacher*innen. Daher machten sie hauptsächlich Dokumentarfilme. Vielleicht einen Spielfilm, nur einen. Ich war mit diesen Filmen nicht zufrieden, weil sie für mich immer wie eine Art Reportage rochen. Sie basierten immer auf der politischen Situation. Sie waren zu direkt, mit Ausnahme eines Spielfilms von Khalil Al Muzayen namens SARAH aus dem Jahr 2014, eines Films von Ahmed Hassouna und einiger anderer, die versuchten, echte Filme zu machen. Die Brüder Arab und Tarazan drehten nach dem Krieg 2014 den Kurzfilm CONDOM LEAD in Gaza. Es gab einige Erfahrung.
Gaza hat viele Städte, es ist nicht eine große Stadt. Ich meine den Gazastreifen. Und wir sprechen von fast zweieinhalb Millionen Menschen … Die Leute lieben das Kino – sie sehen sich Filme an! Als ich in Gaza Filme zeigte, hatte ich mehr Zuschauer*innen als im Westjordanland, oder in Ramallah. Zu den Filmvorführungen, die ich in Ramallah machte, kamen 50 Leute, in Gaza kamen 500, um denselben Film zu sehen. Manchmal kamen 1000 Leute, um sich einen Film in Gaza anzusehen. Ich denke, das hat mit dem ägyptischen Einfluss zu tun, und das Westjordanland ist von Jordanien beeinflusst. In Jordanien gibt es seit 10 oder 15 Jahren Kino. Aber Ägypten – das ist die Geschichte des Kinos.
Ich habe bereits im zweiten Kriegsmonat mit dem Projekt begonnen. Beim El Gouna Film Festival in Ägypten im November 2023 habe ich die Gründung des Mashrawi Fund for Films and Filmmakers in Gaza bekannt gegeben. Im Dezember hatte ich das Projekt FROM GROUND ZERO und wir begannen mit der Arbeit. Bevor wir wussten, ob wir es realisieren könnten. Ob wir das Material herausbringen können, ob wir genug Leute haben würden, die an dem Projekt teilnehmen, ob wir Geld schicken können oder nicht. Wir haben alles während des Prozesses gelernt, während der Dreharbeiten zu FROM GROUND ZERO. Tatsächlich begann FROM GROUND ZERO physisch in Gaza während des Krieges unter den Bomben im Dezember 2023.

Wie haben die Filmemacher*innen von dem Projekt erfahren? Wie wurden sie ausgewählt? Wer sind die Macher*innen der 22 Filme der Kompilation?
Ich kenne einige Filmemacher*innen in Gaza und Künstler*innen aus anderen Disziplinen wie Theater oder Musik. Ich habe zuerst mit diesen Leuten gesprochen und sie gebeten, mir zu helfen, Leute zu kontaktieren, die sich bewerben würden. Ich hatte zwei, drei Leute aus Gaza, die draußen waren und mir halfen, Leute in Gaza zu kontaktieren, um sie zu ermutigen, sich bei FROM GROUND ZERO zu bewerben. Ich habe auch in den sozialen Medien veröffentlicht. Während einer Belagerung gehen alle auf die sozialen Medien sobald es Internetzugang gibt, weil es eine Möglichkeit ist, sich mit der Außenwelt zu verbinden und der Belagerung zu entkommen, besonders während des Krieges. Ich war mir nicht sicher, ob ich 20 Filmemacher*innen finden könnte. Die Idee begann mit 20 Filmen. Am Ende hatten wir 22 Filme und wir hätten dreißig machen können, wenn wir gewollt hätten, aber wir beschlossen es dabei zu belassen, um die Postproduktion zu ermöglichen.
Doch wie wählt man die Filmemacher*innen aus? Es war klar, dass jede und jeder den Krieg, die Märtyrer, die Bombenangriffe …, all die Katastrophen im Fernsehen gesehen hatte. Sie waren in den Medien auf der ganzen Welt präsent. Was könnten wir also selbst tun? Die Projektauswahl, bestand aus drei Elementen: Wir wollten unerzählte Geschichten, solche, die nicht in den Nachrichten sind. Außerdem musste die/der Regisseur*in talentiert sein, auch wenn es ein Debütfilm ist, und die meisten davon sind Debütfilme. Er oder sie musste ein*e Künstler*in mit einer Vision sein. Jemand, der oder die künstlerisch in der Lage ist Kino zu machen, Kino zu denken, denn wir sprechen von Kino. Und schließlich, und das ist ebenso wichtig, musste es realistisch sein, die Geschichte zu verfilmen, angesichts der Realität vor Ort. Wir wollten niemandes Leben für einen Film riskieren. Oft war es während der Dreharbeiten gefährlich oder das eigene Leben war in Gefahr, wie das aller anderer Palästinenser*innen in Gaza, denn es gibt jetzt keinen sicheren Ort in Gaza. Aber im Dezember, Januar, Februar, März, als die Hauptdreharbeiten von FROM GROUND ZERO stattfanden, war es noch härter.
Also: Wir brauchten unerzählte Geschichten, wir brauchten Filmemacher*innen, und wir mussten die Geschichten filmisch umsetzen können. Weil wir FROM GROUND ZERO als Trainingsprojekt für diese Filmschaffenden nutzen wollten, arbeitete ich mit einer Gruppe von Berater*innen zusammen. Es gab künstlerische Berater*innen, die die Geschichten lasen und entwickelten, die während der Schreibphase und während der Dreharbeiten direkt mit den Filmemacher*innen in Gaza zusammenarbeiteten, und es gab sogar in der Postproduktion viel Austausch zwischen den Filmemacher*innen und uns darüber, wie man den Feinschnitt ihrer Filme machen sollte. Ich hatte gute Leute, wie die Palästinenserin Layaly Badr aus Ägypten, Michel Kammoun aus dem Libanon, Abdel Salam Hajj aus Jordanien. Ich hatte Rasmi Damo, einen palästinensischen Künstler, der in Frankreich ist und Karim Traidia, der in Holland lebt, Nadia Eliewat, eine Jordanierin, eine Palästinenserin, die in den Emiraten ist. Wir waren alle die ganze Zeit in Kontakt. Da war Laura Nikolov aus Frankreich, und sogar die Leute vom Schnitt, von der Tonbearbeitung und der Farbkorrektur; sie alle waren eine Art Berater*in. Wir haben alle gemeinsam versucht, die Filmemacher*innen in Gaza zu unterstützen, ihnen zu helfen und sie auszubilden. Ich denke, das ist uns gut gelungen. Wenn ich mir jetzt die Filme und ihre Wirkung auf das Publikum anschaue, bin ich mit dieser Erfahrung zufrieden, denn nichts war geplant. Alles geschah während des Prozesses. Das ist großartig.

Haben die Filmemacher*innen ihre Filme gesehen? Haben sie einige der anderen Filme geguckt?
Jede*r Filmemacher*in sah den Rohschnitt und jede*r Filmemacher*in sah den eigenen fertigen Film. Jede*r Filmemacher*in war an der Erstellung der Endfassung seines/ihres eigenen Films beteiligt. Manche drehten noch nach. Manche baten um eine andere Filmstruktur, einen anderen Anfang oder ein anderes Ende, und manche arbeiteten direkt mit dem/der Editor*in zusammen. Das betrifft die Filme, die wir außerhalb von Gaza geschnitten haben. Viele Filme wurden in Gaza geschnitten, aber die Nachbearbeitung erfolgte außerhalb [wie Farbkorrektur oder Tonmischung, I.N.].
Das Schöne ist, dass alle Filme in Gaza gezeigt wurden. Vor zwei Tagen [26.7.2024, I.N.] war die Eröffnung des Jerusalem Film Festival in der Stadt Deir el Balah in Gaza. Wir haben elf Filme in Anwesenheit der Filmemacher*innen gezeigt, und morgen ist der letzte Tag des Festivals, und wir werden die anderen elf Filme in Anwesenheit der Filmemacher*innen in Gaza zeigen, zwischen den Zelten. Ich war wirklich berührt, als ich all diese Videos und Fotos erhielt. Ich habe einige davon auf meiner Facebook-Seite geposted, aus Stolz und um meinen Kolleg*innen und Freund*innen zu zeigen, wie schön, wie gut, wie stark Gaza ist, das trotz der Bombardierung immer noch mit Kino und Kunst kämpft. Tagsüber kommen die Leute und sehen sich die Filme in Gaza an, und das Festival geht heute noch weiter, und morgen ist der letzte Tag. Großartig. Ich denke, das ist ein großartiger Abschluss für das Interview. Das ist so optimistisch und so schön.

(Interview: Irit Neidhardt, mec film, 28.7.2024)

Nach oben